Décontenance – Konzert für Klavier und Kammerorchester (1994/95)

Verlag: Ms.

Besetzung: Klav solo, 1(Picc)-1(EH)-1(Baßkl)-1, 1-1-1-0, Pk/Schlz (2 Sp), 1-0-1-1-1

Aufführungsdauer: ca. 15′

UA: 7.10.1996, Dresden
10. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik
Klavier: Claudia Cassier
Ensemble Musica Temporale
Dirigent: Christian Münch

Rundfunksendung MDR 1996
BR 18.2.2002, Radio DRS 27.2.2002, SFB 15.4.2002 (jeweils ausschnittweise)

CD: Doku-CD „9. und 10. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“

Werkeinführung:

Décontenance – Fassungslosigkeit als Antrieb zum Komponieren. Die Contenance verlieren: sich danebenbenehmen – aber gezielt!

Eine künstlerische Position beziehen, die sich sperrt gegen eine als Aufruf zu reaktionärer Simplizität und einfältiger Inbrunst fehlinterpretierte Postmoderne, aber auch gegen den unreflektierten Einsatz aller verfügbaren Techniken und Medien.

Um Fassung ringen: um die geistige Gefaßtheit. Eine künstlerische Aussage, die sich in Musik artikuliert, bedarf eines hohen Verantwortungsbewußtseins im Umgang mit dem musikalischen Material, mit Klang, Struktur, Dramaturgie.

Klavierkonzert-? Überhaupt Solokonzert: immer auf dem Grat zwischen anrüchiger Massenproduktion für ebensolche Virtuosen (oder, im 20. Jahrhundert, dubioser „Spielmusik“) und hinreißendem Gelingen; nicht zuletzt immer wieder der Versuch des Komponisten, den Solopart zum (Selbst)Porträt (s)einer Persönlichkeit zu gestalten.

In diesem Sinne ist Décontenance eine sehr geschichtsbewußte Komposition, durchaus kein „Anti-Konzert“. Es gibt einen (im Vergleich zur Gesamtlänge) groß angelegten, „sinfonischen“ zentralen Satz, einen zart-expressiven langsamen Abschnitt, gar zwei Kadenzen… Das Klavier wird, ganz im Sinne der entwickelten Konzertform, als primus inter pares behandelt, Grundbegriffe wie Monolog-Dialog-Szene bildeten das Gerüst für die Konzeption des Verhältnisses zwischen Soloinstrument und Ensemble.

Die Virtuosität des Soloparts sollte gleichfalls nicht zu kurz kommen, allerdings oft eine eher innere – in der Fähigkeit, lange Passagen in strenger Ein- oder Zweistimmigkeit zu gestalten, sich wie der Pianist einer Kammermusikformation einzufügen ins Ensemble. Und gerade die Kadenzen weisen keinerlei vielfältige Spielformen auf, sondern lediglich verbissene Akkordblöcke.

Kammerorchester – seit Schönbergs Opus 9 die damals noch halbwegs freiwillige, heute meist erzwungene Antwort des „modernen“ Komponisten auf das antiquierte bürgerliche Sinfonieorchester: heute, da dieses technisch und musikalisch in der Lage wäre, die spezifischen Anforderungen zeitgenössischer Musik weitgehend zu erfüllen, steht es aufgrund der nicht minder spezifischen Anforderungen des Musikmarktes im allgemeinen nicht mehr zur Verfügung. Kammerensembles also, wie schon zu Haydns Zeiten, als Hauptträger musikalischer Innovation.

Wenn man als „junger Komponist“ eine gewisse Fassungslosigkeit angesichts dieser Lage der Dinge überwunden hat, entdeckt man die Reize dieser Beschränkung: Chance zur Konzentration auf jede Einzelstimme, jede Nuance des Instrumental klanges; und gerade im Solokonzert die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, keinem Instrument eine bloße Statistenrolle zuzuweisen: aus dem Konzert „mit Kammerorchester“ eines „für Kammerorchester“ zu machen, hier in drei verschachtelten Zyklen:

A (T = 120) I II III VII VIII
0’15 0’15 0’15 5′ 0’20
B (T = 90) IV VI IX
2′ 2’30 1′
C (T = 60) V X
1’30 0’30
Fl/Picc x x x
Ob/EH x x x
Klar/Bkl x x x x
Fg x x x
Hr x x x
Trp x x x
Pos x x x
Schlz x x x
Vl x x x x
Va x x x x
Vc x x x x
Kb x x x x
Klavier x x x x x x x x

Die Komposition ist also weitgehend vorstrukturiert durch die Bildung unterschiedlichster Ensembles, durch den Instrumentalklang; die Streicher, da in der Minderzahl, spielen in jeweils vier, Bläser und Schlagzeug in je drei Sätzen, wobei sich im Verlauf des Stückes eine Entwicklung von der Bläser- zur Streicherdominanz vollzieht.

Das Klavierkonzert endet als Streichquartett…* Das Tonmaterial wird größtenteils abgeleitet aus dem quasi improvisando, „im Affekt“ komponierten III. Satz (der ersten Solo-Kadenz) – Akkorde, deren Töne, Länge und Lagenverteilung jeweils die Grundlage bildet für die anderen Sätze: Variationen (I, II), lineare oder punktuelle Ausdeutung (IV, V, VI), „Auskomponieren“ der Akkorde, allerdings in veränderter Reihenfolge (VII, IX), Krebsbildung des III. Satzes (VIII) und schließlich völlige Fragmentierung (X).

* Unmittelbar nach Décontenance entstand das Streichquartett Labyrinth, wenn man darin ist.