Zeitlupen (Eine kleine Fußballcollage) für Sänger/Darsteller (Bariton) und Klavier (mit Nebeninstrumenten) (2003)

Auftragswerk von Moritz Eggert und der Bayrischen Akademie der Schönen Künste

Aufführungsdauer: ca. 10′

Verlag: Schott Music

UA: München, 16.10.2003 (Thomas Bauer, Bariton/Moritz Eggert, Klavier)

Weitere Aufführungen:
30.6.2006, Regensburg (Reichssaal) (T. Bauer, Bariton/M. Eggert, Klavier)
30.11.2009, Kassel (Gießhaus/Universität)

Werkeinführung:

Das Fußballspiel hat viele Komponisten der Moderne fasziniert – sei es wegen der immer neuen dramaturgischen Abläufe innerhalb der 90 Minuten eines Spiels, wegen der Komplexität der möglichen Kombinationen, der Kontraste oder Ergänzungen verschiedener Taktiken oder der herausragenden Position einzelner Spieler, „Solisten“, vor dem Ensemble der Mannschaft, zu dem sie doch immer in Beziehung treten: kurz, die Querverweise auf musikalische, speziell kompositorische Tätigkeit sind zahlreich.

Zeitlupen reflektiert Fußball auf einer zum Teil mehrfach gespiegelten und abstrahierten Ebene. Der Zyklus besteht aus drei ineinander verschachtelten Komplexen: Vier Gedichte aus Gottfried Blumensteins 11 Haikus vom Fußballfeld bilden den musikalischen Kern. Dazu treten drei pantomimische Aktionen, in denen jeweils charakteristische Spielsituationen in Zeitlupe darzustellen sind. Der Einfall hierzu geht auf eine Art „Zeitlupenfußball“ mit einem Luftballon statt einem Ball zurück, den mein Bruder und ich bei Regenwetter im Kinderzimmer praktizierten – packende Torszenen, die wir in einer an fernöstliche Meditation gemahnenden Langsamkeit zelebrierten; dadurch entsteht auch ein Bezug zu der japanischen Gedichtform, die Blumenstein für seine Texte gewählt hat. Komplettiert wird das Ganze durch zwei Rezitationen von Mannschaftsaufstellungen – hierzu gibt es ein berühmtes Vorbild: Peter Handkes Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 – die einen Höhe- und einen Tiefpunkt deutscher Fußballgeschichte repräsentieren: die legendäre Weltmeisterelf von 1954 und die Mannschaften des unsäglichen Spiels gegen Österreich bei der WM 1982, in dem sich beide Teams durch Standfußball und ein wie verabredetes Ergebnis in die zweite Runde retteten und so die Überraschungself aus Algerien, die zuvor Deutschland geschlagen hatte, am Weiterkommen hinderten.

Zahlenspiele prägen die Materialorganisation: das 5-7-5 der Haiku-Silben wie eine der Tonorganisation zugrundeliegende symmetrische Allintervallreihe und daraus abgeleitete lineare Strukturen finden immer wieder zur Summe der Zwölf, die die elf Spieler einer Mannschaft plus Trainer symbolisiert. Gestik und Klanglichkeit des Klavierparts sind ebenso reduziert wie treffend angelegt, ohne sich dabei auf pure Illustration zu beschränken; im Verlauf des Zyklus‘ werden Tonhöhen nach und nach fast vollständig durch Geräusche ersetzt. Unmittelbare Anspielungen (der Rhythmus eines Anfeuerungsrufs, eine Gitarrenimitation auf den Saiten des Flügels zur Pantomime eines Dribblings) bleiben die Ausnahme.

In der verschachtelten Anlage der Gesamtform werden Hörer mit Spezialwissen ohne Schwierigkeiten die Satzfolge von Pierre Boulez‘ Le marteau sans maître wiedererkennen, entstanden um jenes fußballerisch so bedeutende Jahr 1954…

1. Pantomime I (Freistoßtor)
2. Haiku I
3. Pantomime II (Faustabwehr)
4. Haiku II
5. Rezitation I (Bern 1954)
6. Haiku III
7. Pantomime III (Dribbling)
8. Haiku IV
9. Rezitation II (Gijón 1982)